1997 Angelika Kirchmeier Mahnwache gegen die Vertreibung aus der Stadt

Novembertag 1993, es schneit. Ich sitze an der Mahnwache vor der Volksbühne geschützt gegen die Kälte am Feuer. Dreimal wurde diese Mahnwache vertrieben, obwohl sie ein erlaubtes demokratisches Mittel ist. Diese Mahnwache soll aufrütteln und erinnern.

Ich habe eine Wohnung, bin also nicht obdachlos, und trotzdem gehe ich immer wieder hin. Warum eigentlich?

Für mich hat es damit angefangen, daß ich nur einmal gucken war und mit bekam, wie mit Menschen umgegangen wurde. Sechs von den Wagenburglern waren im Hungerstreik, selbst nachts wurden sie gestört, sie durften keine Plane benutzen zum uudecken, immer wieder wurden sie geweckt. Als Hilfe baten sie andere, bitte bewacht unseren Schlaf, wir sind fix und fertig. Und so begann ich mit der Nachtwache vor dem roten Rathaus. Das war dann die erste Nacht, in der sie durchschlafen konnten, ohne Angst zu haben, daß irgendein Polizeistiefel sie vielleicht versehentlich am Kopf treffen könnte.

Ich war nicht allein dort. In dieser ersten Nacht waren Menschen aus verschiedenen Zusammenhängen da, Menschen, die in einem besetzten Haus wohnten, Menschen, die in der Suppenküche in der Wollankstraße in Pankow arbeiten, Menschen aus der Regenbogenfabrik, Menschen wie ich, die in der Kirche arbeiten, und viele mehr.

Diese Nachtwache wurde für mich ganz wichtig, denn ich kam mit Menschen zusammen, um die ich sonst einen Bogen gemacht hätte oder zumindestens Berührungsängste hätte. Es wurde geredet, gelesen, gemalt und gespielt. Selbst nach der Vertreibung vor dem roten Rathaus zum nächsten Platz auf dem Marx-Engels-Forum blieb ich weiter, die erste Zeit Nacht für Nacht, am Anfang ohne Feuer, weil es von der Polizei gelöscht wurde, bis es als Grill erlaubt wurde. Es kamen immer wieder neue Menschen dazu, Menschen, die keine Wohnung hatten, sondern obdachlos waren, also Platte machten. Hier bei der Nachtwache konnten sie nachts dann mal ungestört schlafen, oder sie wechselten sich ab. Da waren Menschen dabei, vor denen ich sonst weggelaufen wäre. „Penner“, mit denen ich nichts zu tun haben wollte.

Hier stellte ich fest, daß sie Menschen sind, ein Schicksal hinter sich hatten, keine Wohnung, keine Arbeit, oder auch umgekehrt, teilweise saufend, trotzdem Menschen, neben denen ich sitzen konnte, ohne gleich in Panik auszubrechen. Was für mich viel problematischer wurde, waren die vielen Kinder und Jugendlichen, die ankamen. Irgendwo auf der Straße oder zeitweise in einem besetzten Haus wohnten, aber eben in der „Gosse“ wohnten. Das fiel mir schwer auszuhalten. Diese Kids forderten ihr eigenes Recht. Ich bekam mit, daß sie schnorrten, was sie für sich als Arbeit bezeichneten, wofür sie schnorrten, für das Futter für ihre Katzen oder Hunde,
{217}
für ein Konzert oder für Lebensmittel. Sie kamen nicht alle aus Berlin, manche kamen aus Leipzig, Dresden, Thüringen oder auch aus der Schweiz. Hier an der Mahnwache kam es ihnen vor wie im Paradies, es kamen „Engel“, die ihnen etwas zum Essen brachten, die Suppenküche lieferte jeden Tag das Mittagessen, später mußten sie es dann selber von dort abholen und das lief auch meist. Was mich noch sehr betroffen machte, war die Situation von Marx und Engels. Hier war die Mahnwache zeitweise geduldet. Armut, Obdachlosigkeit vor Marx und Engels! Ringsherum die Prachtbauten, die großen Hotels und die Leuchtreklame – Coca- Cola, Coke – Flutlichtanlage von 19.00 Uhr bis ca. 2.15 Uhr! Dann war Nacht und etwas Dunkelheit.

Langsam kam die feuchte Kälte durch, ich wurde müde und hoffte, die Zeit bis zur ersten U-Bahn noch einigermaßen gut auszuhalten. Immer war eine „Polizeiwanne“ in der Nähe, die zusah, was hier wohl passiere. Wir gewöhnten uns an unsere Wanne. Aus dem Hungerstreik der sechs Wagenburgler entwickelte sich immer mehr eine Mahnwache für die Obdachlosen. Es kam viel Unverständnis auf gegen die Senatslinien, umgangsprachlich ausgedrückt, unser Dorf soll schöner werden und Armut raus aus der Stadt, hinaus an den Stadtrand.

Kann man so mit Menschen umgehen? Ich weiß nicht. Eine Gesellschaft ist immer so gut wie ihr schwächstes Glied, und dafür hat sie Verantwortung, die nicht mit Ausgrenzung erledigt werden kann. Und irgendwie schäme ich mich mit, dass ich hier in dieser Stadt lebe, die so mit Menschen umgeht. Für mich waren viele Kleinigkeiten wichtig, die ich dabei gelernt habe z.B., daß man eine Milchpackung zum Warmmachen aufs Feuer stellen kann, ohne daß sie brennt. Ein physikalischer Prozeß erklärte mir ein Jugendlicher.

Oder es wurde mir die eine Nacht wichtig, wo einige Leute gekifft hatten bei der Nachtwache und mir selbstverständlich auch anboten mitzukiffen, was ich zwar nicht tat, aber es entstand dadurch eine Nähe, die ich selten so dicht erlebt hatte mit Menschen, von denen ich sonst Abstand genommen hätte.

Auch war mir wichtig,das eine Benefizkonzert, welches ich am 31. Oktober auf dem Forum erlebt habe. Traurigkeit empfand ich dabei, als mir bewußt wurde, daß dies alles ausgegrenzt werden soll, Musiker, die in Wagenburgen leben, gemeinsam Musik machen und in Zusammenhängen mit anderen arbeiten und leben. Das soll nicht mehr in der Hauptstadt Berlin geduldet sein. Ich finde, es muß doch nicht jeder so leben wie ich in meiner „Einzimmerhaft“ oder? Warum darf nicht jeder so wohnen, wie er mag. Und ich denke, die Lösung kann nicht ausgrenzen oder Angebot von Einzimmerwohnungen sein. Viele Menschen, die jahrelang auf der Straße gelebt haben, brauchen andere Lösungsmöglichkeiten, bei denen sie auch gefragt werden wollen. Wenn sie selber aufs Land gehen wollen, dann finde ich es in Ordnung. Mir fällt dabei Herbert ein, ein Obdachloser, der mit vier anderen auf einen Bauernhof gehen will, den sanieren will und das für sich als Chance sieht. Das ist okay, aber eine freiwillige Entscheidung und keine Vertreibung.

Was ich hier so schreibe, hört sich sicher für den Leser konfus an, aber ich schreibe einfach so drauf los, so wie es mir einfällt. Eine Räumung habe ich auch mitbekommen, die Räumung am Marx-Engels-Forum,
{218}
Obdachlosigkeit ist kein ästhetischer Anblick und stört den Sinn der Grünflächen. So ähnlich, aber in gutem Amtsdeutsch, war die Begründung, und bloß weg vom roten Rathaus, weg aus der Nähe zum Alex und dann wurde geräumt, natürlich auf einem Sonntag. Ich schwänzte meine Arbeit und ließ mich mit wegräumen. Es war schon ein komisches Gefühl. Mir war es wichtig, mich nicht von irgendeinem Polizisten anfassen zu lassen, zu einem, der es versuchte, sagte ich: „Sie fassen mich nicht an!“ Er tat es dann auch nicht, ansonsten schaute ich drauf, daß es zu keinen unnützen Zwischenfällen kam. Damit hatte ich genug zu tun. Mit einer kurzen Spontan- Demo unter Polizeischutz fanden wir dann eine neue Bleibe für die Mahnwache am Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne.

Vielleicht hat eine von Euch auch Lust oder eine gewisse Neugierde dort einmal hinzuschauen, auch gegen die eigenen Vor-Urteile, das Feuer wartet und jeder kann hinzukommen, sich wärmen, hinsetzen, dazusetzen, reden oder schweigen. Egal, wer oder was er oder sie ist! Also laßt Euch einladen. Bald ist Weihnachten, die Geburt des Kindes Jesus fand nicht in einem Palast statt, nicht in einer festen Behausung, eigentlich war Jesus zu dieser Zeit auch obdachlos, die Ärmsten der Armen kamen als erste vorbei und erzählten überall rum, daß ein Kind in der Krippe geboren ist. Also laßt Euch Mut machen, geht einfach hin und traut Euch zu, mit Menschen zusammenzusitzen, mit denen ihr sonst nicht zusammensitzen würdet. Seht es für Euch als Bereicherung an. Für mich war es.

Berlin Dezember 1997, veröffentlicht im Thomasboten