Dankbar mitten im Konflikt
Wie fast in jedem Jahr muss die Entlohnung und andere Arbeitsbedingungen wie die Arbeitszeit, in der Tarifrunde – zwischen den Arbeitenden, vertreten durch die zuständige Gewerkschaft, und dem Arbeitgeberverband – neu ausgehandelt werden. Die Vertragspartner beraten intern über ihre Einschätzung der aktuellen Wirtschaftslage, die Höhe notwendiger Investitionen, ihre Gewinnerwartung, den Geldwertverlust und teilen ihre Ergebnisse als Forderung oder Angebot einander mit.
Doch wie deutlich werden die Arbeitnehmer hinter den gewerkschaftlichen Forderungen stehen und notfalls einen Streik riskieren, der immer vorüber-gehend einen großen Verzicht für beide Seiten bringt: Gewinne schrump-fen, Aufträge werden nicht termingerecht beliefert und den Arbeitenden fehlen in dieser Zeit das Einkommen für sich und ihre Familien. Keiner der Beteiligten ist nur Zuschauer bei den Verhandlungen.
Kundgebung
Deshalb müssen die Arbeitnehmer ihre Entschiedenheit bei verschiedenen Gelegenheiten öffentlich deutlich machen und zeigen, dass sie hinter den gewerkschaftlichen Forderungen stehen. Die Arbeitgeberverbände greifen nach anderen Mitteln, den Druck auf den Verhandlungspartner zu erhöhen.In einem Jahr entschieden sich die Vertrauensleute in einem Berliner Indus-triegebiet1 für einen Sternmarsch. Die Beschäftigten verschiedener Betriebe machten sich auf den Weg zu einer zentralen Kreuzung. Dort sprachen die Vertrauensleute aus den Betrieben und bekräftigten ihren Willen, während der Verhandlungen und einem möglichen Arbeitskampf hinter den gewerkschaftlichen Forderungen zu stehen. Bei dieser Kundgebung ergriff mein Kollege vom Werk auf der anderen Straßenseite und ich das Wort an die Versammelten. Wie weit konnten wir uns „aus dem Fenster lehnen“? In den Betrieben gibt es unterschiedliche Bereitschaft, die Mühen eines Arbeitskampfes zu riskieren und dem Druck der Gegenseite zu widerstehen.
Den Weg bis zum Ort der Kundgebung meldete die Gewerkschaft als Demonstration an, so dass wir mit den beiden großen Gruppen die Straße nutzen konnten. Doch an den Rückweg dachte keiner. So ging ich am Ende der Kundgebung zu dem nächsten Polizisten und meldete unproblematisch eine Spontan-Demonstration für den Weg zurück an. Ein Polizeiwagen fuhr uns voraus. Und vor den Werkstoren beendigte ich die kleine Kundgebung, und forderte alle auf, die Straße zu verlassen. Dann wünschte den Mitstreitern noch einen guten Arbeitstag.
Der Überfall
Als ich mich auf dem Bürgersteig vor dem Tor zu unserem Werk nochmals umdrehte, stiegen Polizisten aus dem Mannschaftswagen aus und gingen zu dem türkischen Kollegen vom Werk gegenüber. Wir hatten beide auf der Kundgebung gesprochen. Jetzt wollte die Polizei seinen Ausweis sehen. Da fragte er überrascht: „Warum?“ Daraufhin kamen die anderen Polizisten da-zu, schlugen auf ihn und dann auch auf seine türkischen Kolleginnen und Kollegen ein. Dabei riefen sie: „Demonstriert in der Türkei!“ Ich lief zu den Betroffenen auf der anderen Straßenseite und konnte als Deutscher ruhig unter ihnen stehen. Mich griff kein Polizist an. Zurück an unserem Werkstor rechtfertigte eine Polizistin den rassistischen Überfall. Daraufhin sagte ich ihr ganz ruhig, das ich diese Unterstützung ihrer wild geworden Kollegen nicht für angemessen halte und suchte Abstand zu ihr. Später zeigte sie mich auf Weisung ihres Vorgesetzten an. Vielleicht wegen Beleidigung oder Widerstand. Das war mir egal. Zwei türkische Kollegen wurden mit ihren Verletzungen anschließend ins Krankenhaus gebracht.
Einige Tage später ging der Vorsitzende der Berliner IG-Metall mit uns Vertrauensleuten aus den beiden Werken zum Polizeipräsidenten von Berlin. Wir brachten unseren Protest über das Verhalten der Polizisten zur Sprache. Er empfing uns zusammen mit zwei Polizeioffizieren, die im Gespräch mehrmals wiederholten, dass sie ein Fehlverhalten bei ihren Kollegen sehen. Der wohl taube Präsident stellte sich hinter die schlagenden Polizisten. Die unterdessen geschriebene Anzeige gegen mich lief weiter.
Da ich in Urlaub fuhr, beauftragte ich einen Rechtsanwalt, bei Gericht fristgerecht Widerspruch einzulegen, wenn Post von dort käme. Ohne einen solchen Widerspruch bin ich sofort rechtskräftig verurteilt. Leider vergaß er den Auftrag. Die enge Frist war verstrichen, als ich zurück kam. Jetzt war ich zu einer Geldstrafe oder ersatzweise zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt.
Konnte dieses Fehlurteil zurückgenommen werden?
Der Rechtsanwalt bekannte vor Gericht eidesstattlich, dass ihm die Fristversäumnis unterlaufen sei. Das Gericht sah die Schuld trotzdem bei mir, denn ich hätte einen anderen Rechtsbeistand nehmen können. – Daraufhin wandte ich mich an den Petitionsausschuss des Landtages und bekam, ohne sichtbare Prüfung, zur Antwort, dass er der Polizei vertraue. Die Gewerkschaft bot mir an, die Strafe zu zahlen. Doch das erschien mir wie eine Schuldanerkennung, die ich nicht aussprechen wollte. – Daraufhin wandte ich mich an die Frankfurter Rundschau, eine überregionale Zeitung. Dort erschien ein länger Artikel zu dem Vorfall.2 Doch nichts bewegte sich bei der Justiz, die Kritik leicht beiseite schiebt. Ich wollte mich nicht frei kaufen und ging des-halb termingerecht zum Gefängnis in Berlin-Plötzensee.
Die Freiheit auch eine ungerechte Strafe anzutreten
Vor dem mich immer wieder beeindruckenden historischen Tor der Haftanstalt Plötzensee warteten einige der türkischen Kollegen. In einer kleinen Rede begann ihr Vertrauensmann: „Der Christian ist ein Löwe!“ Was heißt das auf Türkisch? fragte ich mich. „Der geht für uns Türken ins Gefängnis.“ Da wollte ich nichts mehr hören. Diese Worte erinnerten mich zu sehr an Jesus, der für uns zu Tode gequält wurde. Ich war kein Märtyrer. Ich wollte nur eine Ersatzfreiheitsstrafe an Stelle der Geldstrafe absitzen.
Etwas abseits stand der Polizist, bei dem ich die Spontan-Demonstration an-gemeldete. Er beobachte uns und von ihm erfuhr ich später, dass die gewalttätigen Polizisten Anhänger der Republikaner waren, also von der kleinen rechtslastigen Partei in West-Berlin. Da wurde mir deutlich, wo die Polizeibeamten meine türkischen Kollegen mit ihrem Ruf: „Demonstriert in Istanbul und nicht in Berlin!“ einordneten. Sie wollten meine Kollegen und Kolleginnen des Landes verweisen .
Die Haft
Rasch ging ich durch das historische Tor, durch das auch die Widerständler unter Hitler gingen. Sie wurden aus dem großen Gefängnis in Tegel hierher gebracht, um dann hier in diesem Gefängnis hingerichtet zu werden. Darunter war 1945 mein Mitbruder Alfred Delp. Ich nahm seine Richtung weisenden Aufzeichnungen „Im Angesicht des Todes“ mit ins Gefängnis, um sie vor Ort nochmals zu lesen. – Außerdem bat mich ein sehr bekannter linker Gefangener, der seit vielen Jahren wegen Widerstand im Gefängnis saß, ihm zu schreiben, wie ich als Neuer die Haft erlebe. Da atmete ich erst einmal tief durch. Dieser Bericht war wie vieles andere jetzt nicht dran. – Ich wurde in einen alten Gefängnisbau geführt, in dem die Todeskandidaten ihre letzten Stunden verbrachten. Innen ein großer Raum mit zwei Galerien, dort sind die Eingänge zu den Zellen. Sie konnten alle von der Mitte des Baus aus ein-gesehen werden.
Jetzt verbüßten in diesem Bau alle Gefangene eine Ersatzfreiheitsstrafe, häufig wegen einem fehlenden Fahrschein im Nahverkehr mit Bus oder Bahn. Alle durften sich im Gebäude frei bewegen. Zum Zählen wurden die Zellen zweimal am Tag von den Beamten verschlossen. Als Neuer kam ich zuerst in eine dreckige Empfangs-Zelle. Am nächsten Tag sollte ich in eine Gemeinschaftszelle verlegt werden.
Vieles war bekannt, denn ich besuchte häufig Gefangene. Doch dieser Rollenwechsel brachte mich emotional näher zu den vorher „nur“ von mir besuchten Menschen. Was ich schon wusste, erfuhr ich jetzt am eigenen Leib: Im Gefängnis werden Menschen von staatlichen Organen zum Schutz Einzelner und der Gesellschaft mit und ohne eigene Schuld ihrer Freiheit beraubt.
Die Realität
Am nächsten Morgen dröhnte der ganze Bau. Ich hörte viele Gefangene schreien. Was war geschehen? Später erfuhr ich, dass ein Gefangener aus einer Viererzelle von einem Zellenkollegen an seinem Entlassungstag zusammengeschlagen wurde. Sein Gesicht war nicht wieder zu erkennen, so wurde mir erzählt. – Der Gewalttäter wollte eine Zigarette von ihm haben, die er ihm verweigerte. Der ganze Raum war voll mit Zigarettenqualm, den wir den ganzen Tag einatmeten.
Morgens wurde ich in eine Einzelzelle verlegt, die mit einem Stockbett für zwei Personen eingerichtet wurde. Mein Kollege kannte sich aus, denn er war wegen Schlägereien schon einige Male hier gelandet. Der Kollege, mit dem er, auf der Zelle auch Bier braute. Der war am Tag vorher entlassen worden und ich nahm jetzt seinen Platz ein. Alle Spuren der letzten Tage waren beseitigt und er sorgte rührend für mich, damit ich beim täglich einmaligen Empfang des Essens genügend Gefäße zur Hand hätte. Diese Solidarität schätzte ich sehr und versuchte ihn nicht zu bedrängen, da ich ja auf Grund der Strafe wusste, dass er leicht zu reizen war und auch zuschlagen konnte.
Eine ereignisreiche Zeit
Ich nutzte meine Zeit zum Lesen der mitgebrachten Bücher und besuchte andere Gefangene. Diese Gefangenenbesuche ohne Gefälle waren für mich eine Freude.3 Ein Mitgefangener lud mich täglich zu einer Demonstration ein, wie er den Hofgang mir gegenüber nannten. Er kannte meinen Haftgrund. Sonst waren für ihn Demonstrationen offensichtlich eine fremde Welt. Mit ihm kam ich regelmäßig aus der verqualmten Bude.
In der Haftzeit warteten weitere Herausforderungen auf mich:
a) Willibald Jakob ein Arbeiterpastor mit den Privilegien eines Bundestagsbgeordneten der PDS besuchte mich.
b) Ich entdeckte einen jungen sympathischen Türken aus meiner Wohngemeinschaft. Nach vielen Diebstählen erteilte ich ihm bei uns Hausverbot.
Hier erwartete er von mir, dass ich ihm seine Strafe bezahle, ihn also frei kaufe. Doch das tat ich nicht;
c) Für den lebenslang Einsitzenden in Süddeutschland schrieb ich meine Erfahrungen auf, die ich hier im Gefängnis erlebte.
d) Auch Post, die auf Grund des Zeitungsberichtes eintraf beantwortete ich.
e) Mich forderte die ehemalige Hinrichtungsstätte heraus, die mitten im Gefängnisbereich liegt. Eine Mauer trennt uns von den Besuchern des Mahnmals zur Erinnerung an die Widerstandskämpfer, die hier ermordet wurden.
Die zehn Tage waren für mich mit diesen Herausforderungen ausgefüllt. Ich durchlief sie neugierig mit viel Freude und Angst. Da die Türen der Zellen Tag und Nacht, bis aufs Zählen, unverschlossen waren, konnte ich auch in der Nacht von dem gefrusteten ehemaligen Mitbewohner belästigt werden. Außerdem war es möglich, dass ich den Zellennachbarn unbeabsichtigt in eine Ecke drängen konnte und er die Kontrolle über sich verlieren konnte. Manchmal reicht da schon ein Missverständnis durch ein mir nicht bekanntes Reizwort.
Mit einem überraschenden Ende
Mit einer Überraschung, wie ich sie oft bei Straßenexerzitien erlebte, endete die Zeit in Plötzensee: An meinem letzten vollen Gefängnistag suchte mich mein Zellenkollege und fand mich auf einer Zelle im Gespräch, also bei einem Gefangenenbesuch. Er bat mich, auf unsere Zelle zu kommen. Dort staunte ich nicht schlecht: Auf dem Tisch standen zwei Teller mit Sahnekuchen und zwei Tassen Kaffee. Als erfahrener Insasse trieb er die Köstlichkeiten irgendwo auf. Ich sollte mich setzen. Abschied war dran. Ich setzte mich. Doch er ließ Kaffee und Kuchen stehen und ging. Der Abschied fiel ihm zu schwer. Eine beglückende und schmerzhafte Erfahrung für mich und wohl auch für ihn. Außerhalb der Anstalt sahen wir uns nie wieder.
Wieder in Freiheit
Am nächsten Tag lies ich ihn und viele andere zurück, ging durch das Gefängnistor und befand mich verwundert wieder in der Welt außerhalb der Mauern. – Schon diese kurze von der Freiheit entfremdet Zeit prägte mein weiteres Leben. Überraschend nahmen mich ehemalige Gefangene solidarisch in ihre Reihen auf und die Mitbürger, die sich schwer vorstellen können, einmal inhaftiert zu werden, halten meine Erzählung oft für ein Märchen und suchen ggf. Abstand. Zum Glück konnte ich dem schon lange Inhaftierten prominenten RAF-Gefangenen, Christian Klar, in einem Brief von
meinen Erfahrungen in Plötzensee schreiben.
Ein Blick zurück: Was ist mir aufgefallen und wichtig geworden?
Die Aktion zusammen mit den Beschäftigten aus den anderen Werken vor Ort holte uns aus der am Arbeitsplatz oft unterwürfigen Situation der Vereinzelung gegenüber den Chefs heraus und ermutigte mich in dieser Situation selbstbewusst eine Spontan-Demonstration anzumelden. Die Polizisten spürten unsere Kraft und ärgerten sich über ihren Dienst, der auch türkisch-stämmige Menschen schützte. Sie distanzierten sich von der Gleichheit vor dem Gesetz, die ihnen zugemuteten wird, durch einem Angriff auf meine türkischen Kollegen.
Ihr Handeln erforderte von mir eine mit den Opfern solidarische Reaktion, bei der mir die Angst vor den bewaffneten Polizisten genommen wurde. Da besann ich mich auf die Grundsätze kollegialen Handelns: die gemeinsame Betroffenheit spüren, Tendenzen der Spaltung entlarven, die rechtsstaatlichen Konfliktlösungen nutzen, das direkte Gespräch suchen und bei mangelnder Einigkeit die Öffentlichkeit informieren. Nach dem Scheitern dieser Schritte, die von vielen unterstützt werden können, war noch der gewaltlose Schritt möglich: Die ungerechten Strafe annehmen! Sie verliert damit ihre diskriminierende Kraft und unterläuft die Trennung zwischen denen, die keiner Schuld überführt und jenen die Inhaftierten werden. Neue Erfahrungen der Einheit werden möglich. Die Freude über das Abschiedsgeschenk ist kaum zu beschreiben: Ein Kaffee mit Sahnekuchen.
So konnte ich ich auch mitten in dieser bedrängenden Situation der Haft Dankbarkeit spüren.
(Kürzungen erlaubt) Christian Herwartz, Berlin
1In Siemensstadt im Stadtteil Berlin-Spandau
2Und auch in der TAZ erschien eine Meldung am 5.12.1997 https://taz.de/!1370142/
3Mt 25,43