Sonja Hannemann, Einfach ohne … Schwimmring

Mulmig war mir schon zumute, als ich am „Kotti“ aus der U-Bahn ausstieg und mich umsah. Selbst mit einigen Jahren Großstadterfahrung fühlte ich mich recht verloren, ziemlich landeiig, und nun war ich auf dem Weg zur Naunynstraße. Dem Wohnort von Christian, der WG, der Kommunität oder was immer mich da erwarten mochte. Die Be-schreibung „ist genau neben dem ‚Tor zur Hölle‘“ machte die Sache auch nicht besser.
Während ich noch überlegt wo lang, wurde ich angesprochen. Und ausgerechnet nach dem Weg gefragt. Mein Gegenüber sah weder sonderlich vertrauenserweckend aus, noch hatte ich einen Plan. Bzw., den hatte ich schon, aber gut verwahrt im Rucksack. Sollte ich ihn wirklich rauskramen, Straßen suchen, Weg erklären? Vielleicht war mein Fragesteller ja viel mehr an meinem Portemonnaie als an der Wegführung interessiert? Mit einem resignierten innerlichem Seufzer gab ich nach. Immerhin war ich auf dem Weg zu Straßenexerzitien – und geht es da nicht gerade um den Moment der überra-schenden Begegnung?
Zu meinem leichten Verwundern erwies sich die Rucksackbekanntschaft als überaus unterhaltsam und während ich meine Siebensachen wieder verwahrte, wurde ich er-neut angesprochen: „Wo willst du denn hin?“ Helga, Rollstuhlfahrerin, blickte mich abwartend an. Nun, wenn ich schon dabei war, konnte ich ja bei der Wahrheit bleiben. Zur Naunystr. 60. „Ach, zum Christian. Ich bring dich hin.“ Völlig selbstverständlich bekam ich Geleitschutz und eine erste Idee, wie die nächsten Tage „auf der Straße“ wohl aussehen konnten.
Heute, zwei Jahre später, sind neben Erinnerungen auch Veränderungen geblieben. Manches steht in einem neuen Zusammenhang. Josua 3, z.B. Ein Bibeltext, der den Einzug des Volkes Israel in das „gelobte Land“ beschreibt. Nach dem Auszug aus der Sklaverei, der Durchquerung von Meer und Wüste, schien das Verheißene so nah. Wenn da nur nicht der Jordan wäre. Der zu allem Überfluss auch noch alle Ufer über-schwemmte. Was mag man da fühlen, als Generation, die in der Wüste aufwuchs und Wasser eher in homöopathischen Maßen kannte?
Und dann die interessante Ansage Gottes: die Priester sollen die Bundeslade (das Zei-chen der Präsenz Gottes) nehmen, sich damit in den Jordan stellen und erleben, wie sich – bei jedem Schritt – das Wasser teilt. Und so dem Volk einen trockenen Übergang bescheren. Doch: Vorsicht ist angesagt! Da es sich nicht nur um ein wundersames, son-dern zweifellos heiliges Geschehen handelt, muss auch das Volk sich heiligen und darf der Lade nicht zu nahe kommen (Jos 3, 5). Der rechte Abstand wird bestimmt: „doch dass zwischen euch und ihr ein Abstand sei von ungefähr zweitausend Ellen! Ihr sollt ihr nicht zu nahe kommen. Aber ihr müsst ja wissen, auf welchem Wege ihr gehen sollt; denn ihr seid den Weg bisher noch nicht gegangen.“ (Jos 3, 4).
Abstand ja, aber im Blickkontakt bleiben. Denn „ihr müsst ja wissen, auf welchem Weg ihr gehen sollt; denn ihr seid den Weg bisher noch nicht gegangen“. Die meisten Wege die ich gehe, bin ich schon oft gegangen. 100 Mal, 1000 Mal. Einen Weg, den ich noch nie gegangen bin? Der Unmögliches erfordert, ja, geradezu verlangt? Einem heiligen Mysterium auf unbekannten Wegen in die Tiefe eines Stromes zu folgen, erscheint wie die erste Laufdistanz vom Kottbusser Platz zum „Tor zur Hölle“. Und überraschender-weise schlagen nicht die Wellen über einem zusammen, sondern man findet sich im ganz anderen, „gelobtem“ Land wieder. An der langen Kaffeetafel eines Samstagmor-gens, an die ganz selbstverständlich ein weiterer Stuhl dazugestellt wird. Erleichtert, dass die üblichen taxierenden Präliminarien – wer bist du, woher kommst du, was stellst du dar? – uninteressant sind und die Einladung zum „da sein“ gilt.
Seither mag ich auf die „Wege, die ich noch nicht gegangen bin“ nicht mehr verzichten. Zu groß ist der Gewinn der nicht gesuchten Fundstücke. Was nichts daran ändert, dass die Herausforderung, und manchmal auch die Angst, bleibt. Dabei ist es gut, die siche-ren Orte des „gelobten Landes“ erlebt zu haben. Sie verstecken sich in Begegnungen, im Glauben, im eigenen Herz. Und manchmal eben auch in der chaotisch, herzlichen, er-staunlichen und heilsamen Runde eines Tisches in der Naunynstraße 60.

aus: Einfach ohne, S. 54