Christian Herwartz Weihnachten – eine offene Herberge

Seitdem ich nicht mehr bei meinen Eltern wohne, also seit über fünfzig Jahren, fordert mich das Weihnachtsfest immer neu heraus. Wie kann ich den Weg bis zum Stall finden, an der geschlossenen Herbergstür vorbei? Gerade Weihnachten werden viele Menschen ausgeschlossen, oft geht die Tür ins Leben vor ihnen zu. So feierte ich Weihnachten häufig zusammen mit Obdachlosen oder einsamen Menschen an ihren Treffpunkten.

Nachdem unsere Kommunität in Berlin-Kreuzberg seit 30 Jahren Menschen aus vielen Ländern beherbergt, feiern wir dieses Fest bei uns. Wann kann es beginnen? Wenn jemand überraschend klingelt und wir aufmachen. Manchmal müssen wir diesen Menschen suchen, wenn er nicht mehr die Kraft aufzubrechen.
Die Türklingel überrascht uns: Mit wem steht der Geist Gottes diesmal vor der Tür? Wir freuen uns dann, dass wir nicht in einer für Fremde geschlossenen Herberge, sondern in einem Stall wohnen.
Hier beginnt auch heute wieder der Weg der Menschwerdung Gottes unter uns, der in der Annahme des Kreuzes zur Vollendung kommt. Nachdem die Soldaten Jesus gefoltert hatten, wies Pilatus auf ihn und sagte: „Seht, welch ein Mensch“ (Joh 18,4 ). Das Lied „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ gehört für mich zum Weihnachtsfest dazu. Die Spaltung der Christen in Ost und West wird an diesem Tag besonders deutlich. Orthodoxe Christen feiern das Fest am ursprünglichen
Termin. Das Kind wird seinem Volk gezeigt. Dieser Schritt in die Öffentlichkeit wurde mir hier in der muslimischen Umwelt wichtiger. Auch mit den Gläubigen anderer Traditionen sitze ich ungern hinter verschlossenen Türen, sondern gehe lieber mit ihnen auf die Straße, in die Öffentlichkeit.
Mit ihnen feiere ich auch das Weihnachtsfest in unserer Gemein-schaft und entdecke den Reichtum des Zusammenlebens mit Juden, Muslimen, Buddhisten, Hindus, Agnostikern und Suchenden, die oft vor verschlossenen Türen stehen und nun dazugehören. Wenn diese Freude erlebbar wird, wenn alle sich als Gastgeber und Gäste fühlen, dann ist der Weihnachtsstern aufgegangen! Nach und nach steigen alle in die jetzt mögliche Kreativität ein und gestalten das Fest mit,
beginnend mit dem adventliche Warten und dann dem Entdecken des Neugeborenen unter uns. Die biblischen Geschichten werden ergänzt durch das Erzählen eigener Erfahrungen. Rückfragen vertiefen sie. Das Fest hat begonnen. Wir essen und trinken gemeinsam, teilen Mitgebrachtes und gehen dann an unterschiedliche Orte, das Fest mit anderen weiter zu feiern.
Ich selbst fühle mich dieses Jahr wie in einem Geburtskanal, da ich nach 40 Jahren die mir vertraute Gemeinschaft verlasse und im April 2016 den Staffelstab an Jüngere übergebe. Sie suchen noch nach einem Priester, um mit ihm auch dieEinfach mit Frieden eucharistische Gastfreundschaft weiter zu pflegen. Ebenso soll die Praxis der hier vor 20 Jahren entstandenen Exerzitien auf der Straße weiter gehen. Die Tür zur Straße, mit all ihren Überraschungen, bleibt offen.

entnommen: Einfach ohne S. 232f