am Ende des Kirchenjahres am Sonntag vor Christkönig (das ist im November der letzter Sonntag vorm 1. Advent, in der evangelischen Tradition, der Totensonntag).
Dankbar sehen wir auf das Jahr der Barmherzigkeit (2016), in dem uns die Augen für unterschiedliche Notlagen weltweit geöffnet wur- den. Wir sahen unsere Schwestern und Brüder deutlicher in ihrer Kraft, eigene und fremde Not zu überwinden.1 Menschen blieben in ihrer Heimat, obwohl sie hungern und ihr Leben bedroht ist. Andere konnten fliehen und einen Neuanfang wagen. An diesem Tag wollen wir die arm Geborenen und arm Gemachten in unseren Gesellschaf- ten wahrnehmen. Mit diesem Wunsch begleite ich den neuen Welttag der Armen am Sonntag vor dem Christkönigsfest (oder in der evange- lischen Kirche dem Ewigkeitssonntag) am Ende des Kirchenjahres. Dieses Fest führte Pius XI. mitten in den Trümmern ein, die die kriegsverherrlichenden Machthaber nach dem 1. Weltkrieg hinter- ließen.2 Mit dem Fest wendeten Christen sich von weltlichen Macht-habern ab und richteten sich neu auf den König der Ewigkeit aus, dem sie sich in der Taufe anvertrauten. Er lebt mitten unter uns und hört auf unsere Not (Ex 3,7). In der Folgezeit widerstanden Menschen mutig unmenschlichen Ideologien und nationalistischen Strömun- gen. Der Frieden im gemeinsamen Haus bleibt aber gefährdet.3
Die Gerechtigkeit wird mit Füßen getreten
Ein großer Teil der Weltbevölkerung lebt heute in Unsicherheit. Schamlosigkeit und Gewalt sind im Vormarsch. Die Welt ist gespalten. Das Elend wird immer offensichtlicher. Wiederholt sprach papst Franziskus über den Grund für diese Situation, das unterwürfige Verhältnis zum Geld und die Akzeptanz seiner Macht über uns selbst und unsere Gesellschaft. Die Anbetung des Goldenen Kalbs (Ex 32, 15-34) setzt sich im Kult des Geldes, einer fantasielosen Ökonomie und in der Diktatur der Gewinner fort. In ihr werden wir alle gesichtslos und unserer wahren menschlichen Ziele beraubt. Gewerkschaftliche und weitere politische Kräfte in der zivilen Gesellschaft leisten Widerstand gegen diese Entwicklung. Der Friede im gemeinsamen Haus ist weiter gefährdet.
Versklavende Arbeit
Viele Menschen erscheinen im vorrangigen Streben nach Profit heute überflüssig und sind ausgeschlossen, an der Schöpfung mitzuwirken. Mit ihrer Arbeit könnten sie für den Unterhalt ihrer Familien sorgen und zu lebenswerten Bedingungen für alle beitragen. Die Arbeit ‚salbt‘ uns mit Würde4; macht uns Gott ähnlich, der gewirkt hat und bis jetzt wirkt (Jo 5,17). Nicht nur junge Menschen bleiben aufgrund der ökonomischen Ausrichtung der Gesellschaft arbeitslos. Sie strebt nach egoistischem Profit statt nach sozialer Gerechtigkeit. Das Ergebnis: Arbeit, die versklavt.5
Viele Menschen auf der ganzen Welt sind Opfer der Sklaverei, bei der die Person der Arbeit untergeordnet wird. Möglichst viele Menschen guten Willens sollten sich gegen Menschenhandel, eine Form der Sklavenarbeit, einsetzen.
Sich betreffen lassen
Der Welttag der Elenden weist uns auf ihre offene oder verdeckte Not hin. Er fordert uns zum Engagement mit den Betroffenen heraus, damit wir alle und nachfolgende Generationen von Hunger und Durst, von Heimatlosigkeit und Schutzlosigkeit, Krankheit und Gefangenschaft befreit werden. Oft wird die Armut und Chancenlosigkeit der Menschen von den Verantwortlichen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft billigend in Kauf genommen.
Setzen wir uns neben Lazarus (Lk 16,20-31), der vor unserer Haustüre bettelt und sehen mit ihm auf unsere Welt.
Franz von Assisi entdeckte bei der Umarmung des Aussätzigen Christus in ihm. Er berührte seinen Leib. Die Armen, die Verlassenen, die Kranken, die Ausgestoßenen werden mit ihren Leiden zum Leib Christi. Zu der armen Kirche gehören auch alle, die den Ausgrenzungstendenzen widerstehen, Abwertung aufdecken. Hören wir auf den Schrei der Leidenden und gehen auf Ausgegrenzte zu? Erkennen wir die schamlosen Gewinner – vielleicht in unserer Nähe – und gebieten ihnen Einhalt?
Erinnert sei auch an die Welttage der UN und anderer internationaler Gruppen6, die auf Marginalisierte hinweisen. In Solidarität und Gemeinschaft können Grenzen überwunden und Wunden geheilt werden.7
Die Geschichte des anderen achten
Wie können wir die Nähe zu Not-leidenden suchen, ohne sie öffentlich zu beschämen? Jesus gibt uns ein Beispiel (Jo 8,3-11): Eine beim Ehebruch ertappte Frau wird zu ihm gebracht. Jesus wird auf die Probe gestellt, ob er das Gesetz des Landes achtet. Bei Ehebruch sollen die beiden Beteiligten gesteinigt werden. Doch die zweite Person fehlt. Jesus fragt die Frau nicht nach ihrer Geschichte mit dem beteiligten Mann. Er bückt sich vielmehr vor ihr und schreibt auf den Boden. Damit steht er sich solidarisch mit ihr an dem Platz, wo ihn die Steine ebenfalls treffenn.
Als das Geschrei der Meute lauter wird, steht er auf und sagt: „Wer ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.“ (Jo 8,7) – „und auf mich“, müsste es heißen. Die Älteren erkennen ihr Versagen und gehen zuerst.
Die angeklagte Frau taucht in dem biblischen Beispiel anfangs nur als Objekt der Versucher auf. Da ruft uns Jesus zu: Lasst im Blick auf die eigene Schuld die Steine fallen!
Die eigenen Anteile sehen
Die biblische Geschichte der angeklagten Frau zeigt, dass wir gerne unsere eigene Schuld verdecken und andere als die Verursacher von Spannungen darstellen. Durch viele Verwundungen in unserer persönlichen Geschichte und der unserer Völker vernarbten unsere Herzen. Aus Angst vor alten Schmerzen verkriechen wir uns häufig hinter Vorurteilen, um uns vor neuen Verletzungen zu schützen. Wir übersehen leicht die Not der Menschen außerhalb unserer Burgen. Darunter sind viele Frauen und Kinder. Denn die Armut ist oft weiblich. Besonders in Kriegen werden viele Frauen vergewaltigt. Kinder und Behinderte werden bei sexuellen Überfällen für ihr ganzes Leben verstümmelt.
Doch wir werden durch das Elend anderer leingeladen, unsere Beziehungen zu ihnen neu zu entdecken. Diffamierende Ausgrenzungen hingegen verstärken ihre Not. Mit dieser Einsicht können wir den breiten Weg (Mt 7,13) rassistischer, intellektueller und sexueller Verachtung verlassen und auf die Straße der Menschwerdung zurückkehren mit Marias Einladung:
„Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ (Lk 1,38).
Die Straße der Menschwerdung im Mitleben entdecken
Jesus betont die uns anvertraute Würde (Gen 1,27) und wäscht mit dieser Hochschätzung seinen JüngerInnen beim Abschiedsmahl vor seiner Hinrichtung die Füße (Jo 13,1-17). Eine Frau salbte am Vorabend seine Füße. Nach und nach duftet das ganze Haus vom kostbaren Salböl und breitet sich sogar über seinen Tod hinaus aus. Die Salbung gilt allen Armen, Gefangenen, Kranken und jenen, die traurig und einsam sind. Die Fußwaschung ist ein Symbol für die Menschwerdung bis in die liebevolle Berührung.
Doch die Jünger demütigen die Frau mit dem Hinweis: Das Geld hätte man den Armen geben können (Mk 14,5). Jesus gebietet Einhalt. Doch sie bleiben in ihren gewohnten gesellschaftlichen Vorstellungen gefangen. Da steht einer der Apostel auf und geht zu denjenigen, die Judas für den Verrat Geld anbieten. Von dieser Verachtung werden wir auf der Straße der Menschwerdung befreit.
Die Begegnung mit dem Auferstandenen
Ungefiltert begegnet uns Armut außerhalb unserer Schutzmauern in der Öffentlichkeit der Straße. Dort begegnen wir mitten unter uns dem auferstandenen Christus. Er zeigt sich besonders in jenen Menschen (Mt 25,31-46), denen, ähnlich wie ihm am Kreuz, Zukunft verweigert wird. Wir finden ihn zum Beispiel bei allein gelassenen Kindern, bei Menschen, die ihr Leben über sexuelle Dienste absichern, die arbeitslos oder wohnungslos auf der Straße leben. Wir selbst können auch einmal dazu gehören.
Die Straße ist ein Zugang zu Jesus, der sich selbst als Straße bezeichnet. Er ist die Straße, die zur Wahrheit und zum Leben führt (Jo 14,6). Wenn wir mit unserer Sehnsucht unterwegs sind, bekommen wir – ähnlich wie die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus, die erst über die Frage des Fremden spotten – von Jesus eine Antwort, die uns die Augen für das Jetzt öffnet. Häufig verstehen wir die Antwort der Straße erst, wenn wir von solch einer überraschenden Begegnungen anderen erzählen und merken, wie uns das Herz brennt (Lk 24,32). Auf der Straße außerhalb unserer Festungen begegnen wir den gering Geschätzten, den Armen, den Kranken, den Bei-Seite-Geschobenen und Schutzbedürftigen, den Kindern. In der Begegnung mit dem armen Christus und dem, der ihn gesandt hat (Jo 13,20), merken wir unsere eigene Obdachlosigkeit, Gefangenschaft oder Erfahrungen des Ausgegrenzt-Werdens. Und so kann er auch in uns sprechen.
Dann wird die erlösende Weite der Straße, die uns aus der Enge unserer Vorstellungen herausführt, wie für Vinzenz von Paul zum Kreuzgang.8 In Geistlichen Übungen auf der Straße beginnen wir Gottes Spuren in und um uns zu entdecken9 und sind in der Mitte aller Menschen mit ihm unterwegs.
Öffentliches Handeln mit Vollmacht
Als ein Gelähmter Petrus und Johannes ansprach (Apg 3, 1-11), können sie ihm kein Almosen geben. Doch sie blicken ihn an, spüren sein Verlangen nach Heilung und tun, was ihnen im Namen Jesu möglich ist. Staunend sehen sie, wie der Mann aufspringt und sich ihnen anschließt.
Wann kaufen wir uns nicht durch Almosen frei?
Welche Ressourcen teilen wir bei wahrgenommenen Not?
Wo stehen wir gegen strukturelle Ungleichheit auf?
Welche Verleumdungen sind wir dann bereit zu ertragen?
Viele Güter und Machtmonopole gehen auf im Kolonialismus gestohlene Güter zurück und zementieren die Teilung der Welt. Sie werden nicht kampflos zurückgegeben, aber „Teilung wird nur durch Teilen überwunden.“10 Dazu gehören auch unsere Privilegien, unsere Beziehungen und unser Wissen.
Beispiele aus der Geschichte des Teilens und der Solidarität ermutigen uns: Die Gastfreundschaft von Abraham und Lot (Gen 18/19). Jesus stellt Kinder in die Mitte (Mt 18,2). Der Hl. Benedikt gibt in seiner Regel bei anstehenden Entscheidungen den Jüngsten das erste Wort.11 Franziskus geht über die Frontlinie zum Sultan12, Menschen nahmen den Weg mit ihren Familien bis in die Gaskammer13, bleiben bei ihren Familien in Kriegsgebieten14 oder leben ihre Solidarität mit KollegInnen am Arbeitsplatz auch in bedrohlichen Situationen.
Der Welttag der Armen soll der Kirche beistehen eine entschiedene Zeugin der Barmherzigkeit zu sein. Dann werden Blinde sehen, Lahme gehen, …. (Mt 11,5)
Unsere Bekehrung
Suchen arme Menschen in unserer Nachbarschaft Schutz, dann können wir auf sie zugehen und denen begegnen, die in der Nähe Gottes leben. Als Gäste (Gen 18, 3-5; Hebr 13, 2) werden sie uns zu LehrerInnen und führen uns neu in den Glauben ein. Sie zeigen uns ihre Fähigkeit zu vertrauen und ihre Bereitschaft zu empfangen. Mit ihnen werden wir dann Gott preisen. Sie werden uns nüchtern und froh lehren, auf die Vorsehung Gottes zu vertrauen, die Armut des Evangeliums, Solidarität, Teilen und Nächstenliebe zu sehen. Sie warnen uns vor materiellen Götzen, die den Sinn des Lebens verdunkeln.
Die Armen zeigen uns auch den Dienst Gottes an uns. Er dient uns durch seine ganze Schöpfung mit seiner Liebe, die keinen Menschen fallen lässt. Auf diese Art vom Dienst Gottes an uns verweisen unsere kirchlichen Liturgien. Damit wird der spirituelle Impuls dieses Welttages der Armen deutlicher, der uns zum Christkönigsfest oder Ewigkeitssonntag am nächsten Sonntag führt.
Christian Herwartz
1 Papst Franziskus: Der Kapitalismus kennt Philanthropie, aber keine Gemeinschaft, 4.2.17
2 am 11.12.1925
3 Papst Franziskus: Enzyklika Laudato Si. Über die Sorge um das gemeinsame Haus. 2015.
4 Papst Johannes Paul II: Enzyklika Laborem exerzens. Kapitel II, Nr. 9 Arbeit und personale Würde. 1981.
5 dto. III, Nr. 15 Der personale Gesichtspunkt.
6 Die UN, WHO, UNESCO weisen mit über 40 Welttagen – rassistischer Diskriminierung, Flüchtlinge, indigene Bevölkerungsgruppen, Sklavenhandel, Atomversuche, Gewalt gegen Frauen etc. – auf Schmerzpunkte in der Gesellschaft hin. Auf Anregung von Père Joseph Wresinski aus Frankreich wurde 1992 der Internationale Tag zur Beseitigung großer Armut eingeführt. „Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen, ist heilige Pflicht.“
7 Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. 1998.
8 »Als Kloster habt ihr die Häuser der Kranken, als Zelle ein Mietzimmer, als Kapelle die Pfarrkirche, als Kreuzgang die Straßen der Stadt, als Klausur den Gehorsam, als Gitter die Gottesfurcht und als Schleier die Bescheidenheit. Als Profess das Vertrauen in die göttliche Vorsehung, die Hingabe all dessen, was ihr besitzt.« Vinzenz von Paul
9 Christian Herwartz, Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen. Weitere Erfahrungsberichte (deutsch, französisch, spanisch, englisch): http://www.strassenexerzitien.de; http://www.nacktesohlen.wordpress.com mit Literaturangaben; http://www.exercicesdanslarue.blogspot.de/
10 Lothar de Maiziere, letzter Ministerpräsident der DDR
11 Regula Benedicti, 529
12 Franz von Assisi, 1219
13 Sr. Edith Stein, + 09.08.1942
14 Heute z.B. in Syrien
abgedruckt in: TeDeum, Das Stundenbuch im Alltag, Oktober 2017, Seite 322 bis 329, Klosterverlag Maria Laach, Verlag Katholisches Bibelwerk Stuttgart