1999 Christian Herwartz Das Suchen nach dem Weg der Menschwerdung Gottes

Ein Leben „mit“ (Inkulturation)

Von den folgenden Interessen wollte ich mich leiten lassen:

in der Nähe zu Menschen leben, die für viele Menschen nicht zur Gesellschaft gehören;
in Solidarität mit Menschen leben, die sich für mehr Gerechtigkeit einsetzen;
einen Weg als Arbeiter mit ArbeiterInnen, als Ausländer mit AusländerInnen gehen;
die Würde des oder der anderen auf einem Weg der Inkulturation entdecken lernen.

Mein zentraler Lebenswunsch inmitten dieser Interessen war und ist die Einheit mit Jesus, wie immer er mir auch begegnen will. Er läßt sich begegnen, das war meine Überzeugung und ist jetzt meine Erfahrung, unter den Menschen, bei denen er in besonderer Weise anwesend ist: Kinder, Arme, Gefangene, Kranke, …. Es sind Menschen, die in der Regel nicht in der Mitte stehen, die oft ausgegrenzt werden, die Jesus aber in die Mitte ruft. Er hat sich lieber mit ihnen ausgrenzen lassen, als sich von ihnen zu distanzieren.

Die schmerzhafteste Erfahrung in meinem Leben ist es, daß ich diesen Weg der Nichtausgrenzung nur bedingt mitgehen kann. Wenn ich mich mit und für andere engagiere, stoße ich auf Menschen, mit denen wir nicht zusammen kämpfen oder für die wir nicht dasein können, die in unseren Bemühungen um mehr Gerechtigkeit zur Zeit nicht „integrierbar“ sind. Sie werden dann, um das Anliegen oder die Mitmachenden nicht zu gefährden, beiseite geschoben und ausgegrenzt.

Ich sehe diesen Vorgang oft auch als notwendig an. Streikbrecher müssen verständlicherweise aus der Gewerkschaft, Folterer aus Menschenrechtsgruppen ausgeschlossen werden…. In vielen solcher Situationen komme ich mit meinem Glauben in Konflikt: ich weiß genau, daß Jesus sich von den beiseitegeschobenen Menschen nicht trennt, er sie weiter begleitet und mit ihnen wegzieht. Ich würde gern mit ihm mitgehen und muß doch oft an dem Platz bleiben, an den ich gestellt bin. Diese Trennung von dem mitziehenden, dem menschgewordenen, das Leben teilenden Gott ist eine schmerzhafte Erfahrung.

Doch es gibt auch Einladungen für mich, die Grenzen zu überschreiten, in denen ich ersteinmal eingesperrt bin. Wenn ich sie annehme und oft nach langem Warten dann auch gehe, wird mir die überraschende Einheit mit Gott und mit einem dieser scheinbar unwichtigen Menschen geschenkt. Diese Momente sind Meilensteine auf dem Weg meiner Menschwerdung.

Früher war mir die Menschwerdung Gottes ganz selbstverständlich: Wir leben in der Freundschaft Gottes und er ist vertraut mit unseren Sorgen und Nöten. Jesus ist ganz Gott und ganz Mensch, so wurde nach einem heftigen Streit in der jungen Kirche der gemeinsame Glaube ausgedrückt. Einige Christen konnten und können auch heute diesen Satz nicht mitsprechen: Jesus ist für sie als Mensch der verkleidete Gott oder ein herausragender Mensch. Die Muslime verehren ihn als Propheten. Die Menschwerdung Gottes ist ihnen unvorstellbar; sie wäre ihnen eine Erniedrigung Gottes, ein Eintreten in die Unreinheit menschlichen Lebens; undenkbar ist ihnen die Ausgrenzung und die Hinrichtung des Sohnes Gottes. Mal abgesehen von den familiären Bezeichnungen: Vater, Sohn, Hl. Geist, die ja auch für die Christen nicht die Einheit Gottes infragestellen sollen, werden die meisten Moslime ein Reden von der Menschwerdung Gottes als Entwürdigung Gottes ansehen. Allah ist der, der alles umfaßt und erhält.

Ich beginne nun im Kontakt mit Muslimen, Glaubensfremden und Christen, denen Jesus 2000 Jahre fern ist, mehr das Unvorstellbare dieses Geheimnisses der Menschwerdung zu ahnen. Ich sehe zum einen, wie die Menschwerdung Gottes als befreiendes Ereignis schwer vermittelbar ist. Mit den gegenwärtigen Erfahrungen wird Jesus nur selten in Verbindung gebracht, obwohl er doch in den Brüdern und Schwestern anwesend ist, die durstig, hungrig, krank, gefangen, … sind. Aber wir sind es kaum gewohnt, zu dem unter uns anwesenden Gott hinabzusehen, ihn als Ausgegrenzten, als Leidenden, als Hingerichteten zu begegnen und anzubeten. Den erhabenen Gott, den Heiligen, den Barmherzigen, den Herrscher, … können wir zusammen mit den Muslimen, den Juden und vielen anderen Gläubigen anbeten. Der in unserer Mitte arme, friedenstiftende, verfolgte, … Gott, wie ihn die Seligpreisungen (Mt 5) beschreiben, bleibt in unserem Streben nach Ansehen und Macht auch uns Christen oft sehr fremd. Für mich weist das Geheimnis der Menschwerdung aber auf ihn unter uns hin.

Zum anderen wird mir die Menschwerdung Gottes immer unvorstellbarer und geheimnisvoller im Blick auf den Weg meiner eigenen Menschwerdung. Wie schwer ist es Beziehungen der Freundschaft und der Gleichheit zu leben. Ich möchte dem Prozeß der Menschwerdung Gottes in meinem Leben nachspüren – leisten kann ich ja mein Menschwerden nicht. Auf wieviele Hindernisse stoße ich in mir? Sie lassen mich die Größe Gottes, seine Liebe erahnen.

Ich sehe schmerzhafte und oft ratlosmachende Begrenzungen auf den Wegen der Freundschaft. Wie oft verweigere ich mich, weil alles zu viel wird oder weil ich intensivere Beziehungen scheue. Ich merke da in mir nicht nur angemessene Wünsche der Begrenzung, nach Nähe und Distanz. Es schleichen sich so viele Vernünftigkeiten, Anerkennungswünsche, Überheblichkeiten, innere Distanzierungen und Antipathien ein, die meine Menschwerdung blockieren. Außerdem übersehe ich oft die Überforderungsschilder in meinem Leben und gehe weiter, als es mir und anderen guttut. Meine mitlebende Sehnsucht wird geknebelt, wenn ich Menschen nur eindimensional als Arbeitslose, Obdachlose, Alkoholiker, … sehe und sie und mich als sozialarbeiterische Objekte/Subjekte benutze. Es gibt eine lange Liste von Hindernissen, die hierarchiefreie, freundschaftliche Beziehungen – ein Leben miteinander – erschweren oder verhindern können.

Im Blick auf diese Hindernisse wird mir die Menschwerdung Gottes zunehmend ein immer größeres Geheimnis, vor dem ich in meiner Begrenztheit staunend stehe. Aber es gibt nicht nur diese Erfahrung der Distanz. Ich werde auch trotz aller Ängste zum Menschsein überwältigt, verlockt, überlistet, …. Es sind Einladungen ins Gefängnis, zum Frühstück in einer Arbeitspause hinter einer öligen Maschine, zur Sterbebegleitung, zum Warnstreik, in eine religiöse Gemeinschaft, zum Gottesdienst, zum Mitgehen aufs Gericht oder zur Beerdigung, … oder der Gruß über die Straße, der Kuß einer Aidskranken, das Nicht-mehr-weiterfragen in einer Notlage oder das Gefragtwerden,… Das sind alles keine einforderbare Begegnungen, sondern Geschenke. Sie locken mich über die Grenze, in der mein Menschsein eingeschnürt ist. Diese Einladungen Gottes zum Mitgehen – oder etwas anders ausgedrückt: zur Inkulturation – lassen mich seine Menschwerdung wieder ein wenig ahnen und zeigen mir, wie sehr sie mit meiner eigenen zusammenhängt. Auch Jesus ist zu ihr in der Begegnung mit Notleidenden und in seiner Beziehung zum Vater aus engeren Vorstellungen herausgelockt worden. Das macht mir trotz aller Distanz zu seinem Weg Mut, mich auf seine Begleitung einzulassen und ihn zu begleiten.

Berlin 1999, Für das Treffen der mission ouvriére Nordeuropas 1991 geschrieben, siehe auch Christian Herwartz, GAstfreundschaft, Berlin 2005 S. 164-166